„Gegen den Klimawandel gibt es keinen Impfstoff“
Peter Blenke, Vorstand/CEO der Wackler Holding SE im Gespräch mit Prof. Dr. Dr. Christian Berg, unter anderem Honorarprofessor für Nachhaltigkeit und Globaler Wandel an der TU Clausthal, Präsidiumsmitglied der Deutschen Gesellschaft Club of Rome und seit rund einem Jahr Beirat der ConClimate GmbH, einer Tochtergesellschaft der Wackler Holding SE.
Lieber Herr Prof. Berg, erst einmal recht herzlichen Dank, dass Sie sich Zeit für mich und meine Fragen genommen haben. Die Zahl der an Corona infizierten Menschen steigt zunehmend, fast täglich kommen neue Nachrichten über verschärfte Sicherheitsmaßnahmen und Richtlinien seitens der Politik. Aus Sicherheitsgründen können wir uns deshalb auch heute leider nur über unsere Bildschirme austauschen. Corona hat viel in der Welt ausgelöst. Bei uns in Deutschland hat die Pandemie uns stärker denn je im Griff. Was zeigt uns die Krise über unser Land?
In erster Linie hat uns Corona gezeigt, wie verletzlich unsere Systeme sind, dass unser Leben und eingespielte Routinen sehr fragil sind. Es verdeutlicht, wie sehr wir von Lieferketten und vom globalen Markt abhängig sind. Es zeigt Versorgungsengpässe, den Pflegenotstand, unterbesetzte Gesundheitsämter und Defizite im Bereich der Digitalisierung. Hinzu kommt, dass sich unsere Gesellschaft zunehmend spaltet. Es wird auch immer schwieriger, die noch Ungeimpften zu motivieren und von einer Impfung zu überzeugen. Bei allem müssen wir bedenken, dass unsere Systeme nicht nur fragil sind, sie können auch kollabieren, was wir mit Blick auf die Situation in vielen Krankenhäusern leider auch bei uns in Deutschland befürchten müssen.
Sie haben gerade die Spaltung unserer Gesellschaft angesprochen. Auf der einen Seite wird der Ton bei Impfgegnern, Querdenkern, Klimawandel-Leugnern zunehmend härter und sie schließen sich sogar radikalen bzw. extremen Gruppierungen an. Auf der anderen Meinungsseite herrscht stellenweise Intoleranz und Unmut. Wo bleibt die Solidarität?
Sie haben Recht. Die Diskussionen um Impfplicht, Corona-Maßnahmen usw. erhitzen sich, es gibt vermehrt Krawalle – sicherlich auch unterstützt durch radikale Randgruppen. Aber nicht nur mit Blick auf die Pandemie, auch beim Thema Klimawandel findet zunehmend eine Polarisierung statt. Interessant ist zu sehen, dass sich bei Corona und beim Klima eine asymmetrische Solidarität zeigt. Während bei Corona das Risiko für über 80-Jährige besonders hoch im Vergleich zu den unter 20-Jährigen ist, ist es im Blick auf die Klimakrise gerade umgekehrt. Für die über 80-Jährigen wird der Klimawandel kaum noch gesundheitliche Folgen haben – mit der Einschränkung, dass gerade die älteren Menschen unter den zunehmenden Hitzeperioden leiden. Ganz anders bei den unter 20-Jährigen. Denn die heutigen Neugeborenen werden im Jahr 2100 knapp 80 Jahre alt sein und haben gute Chancen, dieses magische Jahr, auf das viele Klima-Studien Bezug nehmen, noch zu erleben. Bezüglich der gesellschaftlichen Solidarität haben gerade zu Beginn der Pandemie, als es noch keinen Impfstoff gab, sehr viele junge Menschen erhebliche Einschränkungen akzeptiert aus Solidarität mit den Alten. Wie steht es dagegen mit unser aller Solidarität mit den Jungen? Erst langsam beginnt sich ein gesellschaftliches Umdenken abzuzeichnen. Dies wird sicher auch durch Fridays-for-Future, aber auch durch das Verfassungsgerichtsurteil zum Klimaschutzgesetz und andere Akteure unterstützt. Wir müssen jetzt handeln, wenn wir unseren Kindern und Enkeln noch zumutbare Lebensbedingungen sichern wollen. Solidarität ist deshalb unverzichtbar, sowohl bei der Pandemie als auch bei den Herausforderungen von Klimaschutz und Nachhaltigkeit.
Corona und der Klimawandel – beide bedeuten immense Herausforderungen für Deutschland und weltweit. Wo sehen Sie Gemeinsamkeiten, wo die Unterschiede?
Gemeinsam ist beiden der exponentielle Verlauf und die Tatsache, dass ein frühzeitiges Handeln entscheidend ist. Bei beiden ist Solidarität und weltweites Handeln gefordert. Die Pandemie wird erst vorbei sein, wenn Sie global eingedämmt ist und das Gleiche gilt für das Klima. Und bei beiden müssen wir erleben, dass Fakten offenbar nicht zur Einsicht bei den Menschen führen. Wissenschaft wird diskreditiert, selbst sehr gut erhärtete wissenschaftliche Ergebnisse werden mit Verweis auf die abstrusesten Erklärungen bestritten. Das ist sehr problematisch, denn es entzieht jedem rationalen Diskurs die Grundlage. Und das gilt für Corona gleichermaßen wie für das Klima. Der Unterschied zwischen Corona und dem Klimawandel liegt allerdings in den Zeitspannen. In beiden Bereichen sind die Entwicklungen exponentiell, aber bei der Pandemie liegen zwischen politischen Maßnahmen und deren Erfolg Tage bis Wochen – beim Klima eher Jahrzehnte bis Jahrhunderte. Letzteres ist besonders schlimm, weil wir während dieser langen Zeit keine Wirksamkeit unseres Handelns spüren. Wenn wir nicht merken, dass das, was wir tun, einen Effekt hat, dann sind wir sehr viel schlechter zu motivieren. Zu der langen Zeitskala kommt beim Klima zum anderen noch die hohe Komplexität des Themas hinzu. Und besonders wichtig: Gegen den Klimawandel gibt es keinen Impfstoff. Das einzige „Rezept“, das wir haben, ist rechtzeitiges, beherztes Handeln!
Die Komplexität des Klimawandels verstehen und entsprechend handeln ist die größte Herausforderung unserer Zeit. Wie kann man Komplexität erklären?
Das kann ich am besten an einem Beispiel verdeutlichen. In den 1950er Jahren versuchte man auf Borneo die Malaria in den Griff zu bekommen, in dem man mit dem Giftstoff DDT die Stechmücke als Krankheitsüberträger bekämpfte. Die Aktion war erfolgreich, die Stechmücken starben, aber mit ihnen auch viele andere Tiere – unter anderem Wespen, die sich von einer bestimmten Raupenart ernährten. Dadurch vermehrten sich diese Raupen, denn sie waren immun gegen das DDT. Die Raupen wiederum ernährten sich überwiegend von Stroh, wie es in den Dächern der Hütten und Häuser der Menschen verwendet wurde – weshalb den Menschen buchstäblich die Decke auf den Kopf fiel. Dadurch, dass das DDT in die Nahrungskette gelangte, verendeten auch viele Katzen, was wiederum zur raschen Vermehrung von Ratten führte, die sehr robust gegen Umweltgifte waren. In der Konsequenz wurden lebende Katzen mit Fallschirmen über Borneo abgeworfen, um der Rattenplage Herr zu werden. Sie sehen, wie eine gut gemeinte Aktion verheerende Folgen mit sich brachte, weil die Komplexität menschlicher Eingriffe in Ökosysteme radikal unterschätzt wurde. Und diese Gefahr besteht eben auch bei den komplexen Zusammenhängen wie einer Pandemie oder der Klimakrise. Natürlich wissen wir um die gesundheitlichen Gefahren von Corona – aber Politik muss eben immer abwägen zwischen verschiedenen Gütern, die miteinander im Wettstreit sind. Denn die Pandemie treibt viele Menschen in Existenznöte – häusliche Gewalt nimmt zu, psychische Probleme und Verhaltensstörungen treten häufiger auf, die Verdrossenheit wächst. Dazu kommen Liefer- und Produktionsengpässe in der Wirtschaft, eine massive Ausweitung staatlicher Schulden usw. Und vor allem: Wir wissen nicht, was wir nicht wissen! Es könnte sein, dass wir mit Abstand einiger Jahre ein Hauptproblem der Pandemie identifizieren, dessen wir uns heute in seiner Dimension noch gar nicht bewusst sind. Das sollte uns zur Vorsicht und achtsamem Umgang mahnen. Dies gilt genauso für das Klima. Maßnahmen müssen daher sehr genau betrachtet und abgewogen werden.
Ihr Beispiel mit Borneo hat bildlich sehr gut verdeutlich, dass ein einzelner Eingriff unzählige Auswirkungen auf ein System zur Folge hat. Sichtbare wie leider auch unsichtbare. Aber wie geht man mit dieser Komplexität um, gerade wenn es um Corona und Nachhaltigkeit bzw. Klima geht?
Zuerst brauchen wir eine langfristige, globale und ganzheitliche Analyse – bei Corona wie auch beim Klimawandel. In diese Analyse müssen wirklich alle relevanten Faktoren eingeschlossen werden. Gleichzeitig benötigen wir das konkrete umsichtige Handeln vor Ort. Wir müssen unsere Maßnahmen stetig überprüfen. In meinem jüngsten Buch, „Ist Nachhaltigkeit utopisch?“, widme ich mich deshalb im ersten Teil einer möglichst umfassenden systemischen Analyse hinsichtlich der Frage, warum wir nicht nachhaltiger sind. Dies wird dann im zweiten Teil mit konkreten Prinzipien für nachhaltiges Handeln ergänzt.
Der ehemaligen Bundesregierung wird ein Versagen im Kampf gegen den Klimawandel vorgeworfen. Zuviel Zeit sei verloren gegangen, zu viel Rücksichtnahme gegenüber der Wirtschaft genommen worden. Gerade in Zeiten der Klimakrise und der Notwendigkeit nachhaltigen Handelns – wie wird Ihrer Meinung nach mit der neuen Ampel-Regierung die Allianz von Wirtschaft und Politik aussehen?
Die Rolle von Unternehmen hat sich in den letzten Jahrzehnten stark verändert – auch hinsichtlich des Themas Nachhaltigkeit. Der Wert von Unternehmen bemisst sich heute sehr stark in Dingen, die kaum oder schlecht zu quantifizieren sind – an „intangibles“. Früher konnte man den Wert relativ gut abschätzen mit einem Blick in die Unternehmensbücher. Physische und finanzielle Werte gaben den Ausschlag. Heute sind viele Vermögensgegenstände immaterieller Art, wie zum Beispiel Patent- und Markenrechte, der Markenwert, aber auch die Erwartungen bezüglich künftiger Marktentwicklung. Und bei Letzteren wächst die Forderung nach nachhaltigem Unternehmenshandeln. Nachhaltigkeits-Management von Unternehmen hat sich zu einem neuen Qualitäts-Management entwickelt. Was auch die wachsende Zahl der veröffentlichten Nachhaltigkeitsberichte von Unternehmen in den letzten Jahren verdeutlicht. Was ich damit sagen will: Die Einsicht, dass Unternehmen zur nachhaltigen Entwicklung beitragen müssen, hat stark zugenommen.
… meint konkret?
Im Oktober dieses Jahres veröffentlichte beispielsweise der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine von ihm an Boston Consulting (BC) in Auftrag gegebene Machbarkeitsstudie „Klimapfade 2.0“ – wie sich auf nationaler Ebene in den vier Sektoren Industrie, Verkehr, Gebäude und Energiewirtschaft die Klimaziele erreichen lassen. Die Studie kam zu dem Schluss, dass wir bis 2030 rund 860 Milliarden Euro kumulierte Mehrinvestitionen für den Klimaschutz brauchen werden. Vergleicht man die darin vorgeschlagenen Maßnahmen mit den bisher bekannten Plänen der neuen Ampel-Regierung, so kann man viele Gemeinsamkeiten erkennen. So empfiehlt die Studie rund 14 Millionen vollelektrische PKW bis 2030, die neue Regierung plant mit 15 Millionen. Bei der Windenergie auf See will die Ampel auf mindestens 30 Gigawatt 2030 steigen, von Seiten BDI und BC sind 28 Gigawatt gefordert. Und auch bei dem Ausbau der Verkehrsinfrastruktur mit Schwerpunkt Schienenverkehr waren die Forderung bei der Ampel und dem BDI weitgehend identisch. Wir stecken in einer Transformation. Es gibt also eine deutliche Annäherung bei Wirtschaft und Politik und auch das Erkennen der Notwendigkeit gemeinsamen Handels. Es ist entscheidend, dass Wirtschaft und Politik rechtzeitig reagieren und Aufgaben systemisch angehen.
Prof. Klaus Hasselmann, neu gekürter Nobelpreisträger für Physik, meinte vor Kurzem, wir hätten im Blick auf neue Technologien genügend Zeit auf Klimaveränderungen zu reagieren, sehen Sie das auch so?
Hmmm. Ich halte zwar einen aufgeregten Alarmismus für kontraproduktiv – das würde ich Herrn Hasselmann zugestehen. Allerdings habe ich die Sorge, dass eine solche Aussage einige Menschen dazu bringen könnte, ihr Nichtstun zu rechtfertigen. Und damit hätte ich große Probleme. Denn selbst wenn wir überhaupt kein Klimaproblem hätten, gäbe es noch genügend andere Gründe, uns um den Zustand unseres Planeten richtig Sorgen zu machen. Vor allem die Biodiversität ist hier zu nennen. Natürlich sind Menschen sehr duldsam, anpassungsfähig und erfindungsreich und sicher wird es viele neue Innovationen geben, die uns bei der Bewältigung der Klimakrise helfen werden. Aber ich würde aus den genannten Gründen mit einer solchen Kommunikation wie der von Ihnen zitierten doch vorsichtig sein. Man muss halt immer auch berücksichtigen, wer eine solche Aussage für sich verwenden und sie vielleicht zur Rechtfertigung nutzen würde, den Status Quo zu verteidigen. Und das wäre verheerend.
Die Zeit rennt. Die Umstellung auf alternative/erneuerbare Energiequellen in Deutschland wird eine zeitliche und wirtschaftliche Herausforderung werden. Wind und Sonne sollen die Lücke füllen, wenn Atom- und Kohlekraftwerke geschlossen werden. Wäre ein zurück zu Atomstrom denkbar?
Es ist insofern schwierig dies zu beantworten, als wir den (großen) gesellschaftlichen Diskurs über das Thema Kernenergie vor 10 Jahren beendet haben. Ich hielte es für schwierig, nach so langer Zeit das Fass für Deutschland wieder aufzumachen, zumal heute erneuerbare Energien viel wettbewerbsfähiger und auch günstiger sind als Atomstrom, jedenfalls wenn man sie neu baut und die externen Kosten bedenkt. Es mag sein, dass man aus heutiger Sicht vielleicht die Laufzeit der Kernreaktoren um 5 Jahre hätte verlängern sollen, damit der Kohleausstieg schneller möglich gewesen wäre. Aber das ist Schnee von gestern. Atomkraftwerke sind für Deutschland kein Thema mehr und auch Frankreich wird mittelfristig davon Abschied nehmen. Die größte Herausforderung wird sein, den aktuellen Anteil fossiler Energieträger von 73 Prozent am Primärenergieverbrauch bis 2045 auf Null runterzufahren.
Die UN-Klimakonferenz in Glasgow liegt hinter uns. Ich denke, es bleiben gemischte Gefühle, bedenkt man letztlich die Ergebnisse. Hinterlässt der Klimagipfel das Prinzip Hoffnung? Welche Ergebnisse könnten denn optimistisch stimmen?
Wir wollen gemäß dem Pariser Klimaabkommen die Erderwärmung auf 1,5 Grad begrenzen. Bei den bisher gesteckten Zielen und Vereinbarungen der Länder kann man unterschiedliche Zukunftsszenarien mit Blick auf die Zielerreichung betrachten. Wenn man lediglich die aktuell implementierten und vorgeschriebenen Gesetzestexte einhalten würde, dann kämen wir im Ergebnis auf rund 2,7 Grad. Wenn man die Ziele für 2030 strikt einhalten würde, käme man auf 2,4 Grad, und wenn man dann hierzu noch hypothetisch die Einhaltung der versprochenen Ziele z.B. von China und USA annimmt, dann könnte die Erderwärmung auf 2,1 Grad begrenzt werden. Aber selbst, wenn alle Vereinbarungen eingehalten und alle Länder ihre versprochenen Ziele erreichen würden, dann wäre mit dem Ergebnis 1,8 Grad das große Ziel 1,5 Grad noch nicht erreicht. Im Grunde kann ich mich hier dem Urteil vieler Umweltverbände und eben auch des BDI anschließen: Der große Wurf ist in Glasgow nicht gelungen.
Mit Blick auf China, Russland oder Indien wird Europa wohl Vorreiter im Hinblick auf die Erreichung der vereinbarten Klimaziele. Was bei manchen auf wenig Verständnis stößt. Wie kann ich die Menschen mitnehmen, die ja die Folgen der Klimamaßnahmen tragen – sprich starke Einschränkungen hinnehmen müssen?
Einschränkungen sind per se nichts Schlechtes. Mit Einschränkungen leben wir ja generell und sie sind überlebenswichtig. Wenn ich irgendein Ziel erreichen will, aber meinen unmittelbaren Impulsen und Bedürfnissen immer sofort nachgebe, werde ich scheitern. Wer sich Ziele setzt, muss auch die Mittel dafür richtig wählen – und die verlangen eben oft auch, sich einzuschränken.
Lieber Herr Prof. Berg, ich würde gerne noch sehr viel länger über so viele noch offene Fragen mit Ihnen sprechen, aber fürs Erste bedanke ich mich an dieser Stelle sehr herzlich für das Gespräch. Ich bin gespannt, was die neue Regierung auf den Weg bringen wird. Ich würde mich freuen, wenn wir uns anlässlich einer Zwischenbilanz gerade hinsichtlich der Ergebnisse der neuen Klimapolitik wieder austauschen werden.